In Radebeul ein gelungener Act, in Meißen mit Ausfallerscheinungen seitens des Computers.
Grian Duesberg meistert es beide Male grandios und mit einem Lächeln. Er sagt die ellenlange Formel für die Berechnung des Osterdatums auswendig her. Das gab fröhlichen Szenenapplaus.

 

Die Vermessung der Bühne

Man konnte es wissen: Daniel Kehlmanns Geschichte vom Werk Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt wird auf die Bretter der Landesbühnen Sachsen kommen. Chapeau erst mal!

Aber was für ein Vorhaben! Es gibt das wunderbare Buch von Daniel Kehlmann. Tausende Leser und ein riesiger Wikipedia-Eintrag schwärmen davon. Es ist seit zwölf Jahren unterwegs auf dem Büchermarkt. Dann ist die Geschichte ist als Hörspiel erschienen – mit aller Vehemenz, akustischem Schnickschnack und mit Sprechern wie Udo Schenk, Jens Wawrczeck, Michael Rotschopf u.v.a. Schließlich ist sie zu einem Film geworden, der durch Persönlichkeiten wie Detlev Buck, dem Regisseur mit den zwei glücklichen Händchen, Florian David Fitz oder Vicky Krieps oder Albrecht Abraham Schuch sich ins Gehirn eingegraben hat. Und nun: Diese unglaubliche Handlung auf eine Theaterbühne bringen, ohne hinter all diesem zurückzubleiben?

Dirk Engler (Bühnenfassung), Lutz Hillmann (Regie), Miroslaw Nowotny (Ausstattung, Video) und Uta Girod haben es gewagt, auch wenn zu bedenken war: Geht das überhaupt?

 

Die Frage stand bis zur Premiere am 14. Oktober in Meißen und am 20. Oktober in Radebeul. Dann konnten es alle sehen, hören, fühlen: Es geht! Und zwar grandios. Wenn Sie ein Beispiel brauchen, um Theater als kollektive Leistung zu demonstrieren – nehmen Sie dieses!

Ich gestehe: Noch nie haben mir eingespielte Videoprojektionen irgendeinen glücklichen Moment beschert. Bisher. Mit der Arbeit von Nowotny ist das etwas anderes. Hier sind Video und Schauspiel zusammen gedacht, aufeinander losgelassen, so dass die Mimen in und mit ihnen spielen können. Zum ersten Mal stört keine Leinwand, weil die Bilder dezent und dennoch eindrücklich auf einer gespannten Gaze laufen. Sie sind keine Beigabe, sondern dringend notwendig, machen gespannt auf die nächste Sequenz. Denn die Geschichte ist kompliziert; die Zeiten, die Orte, die Personen wechseln wie der Schnelldurchlauf einer Epoche. Aufklärung ist ihr Name und sie erscheint viel weniger aufgeklärt als Geschichtsbücher glauben machen. Na ja, die Aufklärung soll ja auch erst stattfinden. Dank Menschen wie Gauß und Humboldt, beispielsweise.

Das Premierenpublikum in Meißen war gespannt, sehr gespannt. Man konnte es mit Händen greifen. Theaterleute waren da, Kulturreisende, Verehrerinnen und Verehrer. Sie wollten etwas ganz Gutes, Schönes sehen. Und sie haben das bekommen, freudig, dankbar, genießend.

Schon die ersten Sätze gehen alle an. Alt werden, jung sein ist das Thema. Michael Berndt-Cananá holt sich das Publikum in wenigen Sätzen. Er ist jetzt schon die Doppelfigur: Jung und Alt. Draufgängerisch und weise. Das verzaubert. Sofort.


„… die beiden alten Männer, der eine, der überall war, der andere, der nirgends war; der eine der immer Deutschland mit sich getragen hat, der andere, der wirklich geistige Freiheit verkörpert, ohne je irgendwohin gegangen zu sein.“ Daniel Kehlmann

 

Die Unterschiedlichkeit der Personen, Genie und / oder fleißiger Wissenschaftler, Fordern oder Kämpfen -  das sollte deutlich werden. Dafür wird um die Hauptpersonen ein üppiges Panorama aus Menschen und Dingen versammelt. Johanna, die erste Frau von Gauß, Eugen, sein unglücklicher Sohn, Daguerre, der Fotograf, der hilfreiche Herzog von Braunschweig, Humboldts Assistent Bonpland, Gauß als Kind, eine Tänzerin, Goethe und sogar ein Hund. Und ein Gegenstand, der viel von ihnen abverlangt: die Drehbühne. Treppe, Kasten, Berg, Flussbett, Hintergrund, alles in einem. Hier kommt es auf jeden Schritt an – sonst könnte es passieren, dass man hinter die Kulissen blickt, und das soll ja nicht sein.

Schon der Umzug auf der offenen Bühne – ein optischer Genuss. Aus den weisen Alten werden der Himmelsstürmer und das mathematische Genie, Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß, in ihren jungen Jahren. Supergelegenheit für Grian Duesberg, ins Geschehen einzusteigen. Die Poesie von Daniel Kehlmann bringt die beiden Hauptfiguren zusammen, obwohl sie sich erst ganz spät, im hohen Alter begegnet sein sollen.

Und wie sie alle miteinander spielen!

Herzgewinnend Johannes Krobbach als Eugen Gauß, männlich und wandelbar Anke Teickner als Fotograf Daguerre. Souverän und schön französisch, als ewig unterschätzter Mitreisender Aimé Bonpland, holt Jens Bache das Geschehen angenehm aus dem Wissenschaftshimmel auf den Boden der Welt. Julia Vincze ist eine reizende Johanna, eine kluge Frau, ebenfalls permanent unterschätzt, wie damals üblich. Und als Herzog von Braunschweig darf sie gütig sein, mackenhaft und machtverwöhnt, aber doch charmant und der Wissenschaft zugetan. Auch den Bärtigen und den Eingeborenen gibt sie ausgesprochen liebenswert. Eine Paraderolle in zehn Varianten hat Tom Hantschel. Dank seiner Statur ist er immer identifizierbar, und jedes Mal freuen sich die Zuschauenden, wenn er auftaucht. Ob als Wahrsager, Missionar, Goethe, Ureinwohner, Graf von der Ohe zu Ohe oder Emmanuel Kant, es passt!

Aus dieser „Vermessung“ kann sich jeder seine Wahrheit entnehmen. Soweit das nicht besonders, das soll Theater ja anbieten. Aber in diesem Fall machen uns die Hauptdarsteller Grian Duesberg und Michael Bernd-Cananà das Mitdenken besonders schmackhaft und angenehm. So frisch und glaubhaft sind die Figuren gebaut – man sieht sie tatsächlich als die großen Wissenschaftler und hätte gern ein Interview mit ihnen.

Dankbar mag auch mancher Zuschauende der Kehlmannschen Figur des Bonpland gefolgt sein. Der wichtige, aber ewig unterbelichtete Gefährte, ohne den eigentlich nie geht, der es aber auch nicht in die Pressemeldungen schafft, geschweige denn auf die Obhut seines Meisters hoffen kann. Der Gelehrte als Assistent. Parallelen zur Jetztzeit? Wer fragt das.

In Radebeul ist es die berühmte „zweite Vorstellung“. Nicht so viel Begeisterung vorab, normal? Weniger junge Menschen, Radebeul eben. Hier verläuft der Theaterbesuch meist eher sittsam. Bravorufe werden nicht laut herausgerufen, sie erklingen eher still, tief im Herzen. Das müssen Schauspieler wissen, um sich nicht zu wundern. Etwas erschwerend wirkt, dass die Worte rein akustisch etwas leiser rüberkommen. Schade, in Meißen war das kein Problem.

Eins klappt in Radebeul reibungslos und kundenfreundlich: In der Pause stehen die vorab bestellten Speisen und Getränke pünktlich an nummerierten Tischen bereit. Aber wer weiß schon, wie viel philosophische Gespräche an diesen Tischchen stattfinden? Vielleicht über das Kehlmann-Zitat von der Entropie (die Umkehr, innerhalb)? „…, dass immer und überall in der Welt das Chaos ständig steigt, und wenn man an einer Stelle Ordnung schafft, kostet es einen woanders umso mehr Energie.“ Und sagt dazu: Das ist in jedem einzelnen Leben so.

Verständlich, dass sich Theaterbesucher erfreut und nachdenklich auf den Nachhauseweg machen. Beschenkt. Wenn nicht beglückt. Dankbar allen, die so einen wunderbaren Abend hergezaubert haben.

Christine Ruby

 

Nächste Vorstellungen: 11. Januar, 19:30 in Bautzen, 28. Januar, 19:00 in Radebeul, 3. Februar, 19:30 in Bautzen, 4. März, 15:00 in Bad Elster, 16. März, 19:30 in Bautzen, 24. März, 19:30 in Radebeul